Ich habe einen Teil meiner gewählten Pflanze im Mund. Pelzig schmiegt sich das Alchemilla Blatt an meine Zunge. Meine Füsse handbreit voneinander entfernt, parallel auf dem Boden stehend. Meine Augen verbunden mit einem Schal. Es ist dunkel und ich bin angespannt, neugierig. Gehe leicht in die Knie und nehme nun auch mit den Armen die vorher erklärte, rituelle Trancehaltung ein. Ich öffne den Mund zu einem breiten Grinsen und schiebe den Unterkiefer vor.
Die Trommel setzt ein. hart, laut und schnell. Ich beginne mich zu verkrampfen - und denke: jetzt schon! entspann dich! Dunkel, Trommel, nichts passiert. Dann beginne ich nach hinten zu kippen, immer wieder zieht es mich nach hinten. Etwas verkrampft versuche ich das Schwanken meines Körpers auszugleichen. Der Trommelschlag verwirrt etwas in meinem Kopf, kann nicht mehr klar denken, nicht mehr verhindern... gebe der schwankenden Bewegung nach... doch trotz meiner Angst kippe ich nicht nach hinten um.
Und dann plötzlich: Farben, Gerüche, Bilder, Eindrücke... werde von hinten in die Erde gezogen, rutsche durch einen dunklenbraunen Tunnel immer tiefer in die Erde hinab. Es riecht nach Gras, Erde und Regen, dieser feuchte, intensive Erdgeruch, der nach dem Regen aus der nassen Erde aufsteigt. Der Tunnel wird immer schlammiger. Meine Angst mischt sich mit Hingabe und Hinnehmen des Geschehens. Plötzlich erinnert sich ein Teil von mir daran, dass wir aufgefordert wurden Spannung in einen Körperteil zu bringen. Ich spanne meine beiden Daumen an... und es ist als ob ich auf das Gaspedal eines Motorrades trete: plötzlich kehrt sich mein Fall um und ich werde ruckartig, mit großer Geschwindigkeit vorwärts katapultiert!
Ich rase durch den Erdtunnel wieder Richtung nach oben, kurz zittern meine beiden Daumen und die Spannung und auch mein Weg Richtung Erdoberfläche beginnt nachzulassen. Ich habe Angst und doch merke ich, dass ich die Wahl und die Kontrolle habe: ich kann mich entscheiden etwas zuzulassen und zu erleben oder ich kann mich entscheiden meine Augen und meine Sinne zu verschließen.
Ich spanne meine Daumen wieder an... und schon geht die Fahrt weiter, nun bin ich neugierig, aufgeregt und doch auch noch ängstlich. Ich erreiche die Oberfläche, meine rasante Fahrt stoppt und ich stehe auf einer weiten, grasbewachsenen Ebene. Ich beginne mich zu bewegen, immer auf den Horizont zu. Ich weiß zwar nicht warum, aber ich weiß, es ist der richtige Weg. Dann taucht in der Ferne ein Baum auf und ich beginne zu laufen. Ich laufe auf diesen Baum zu und beginne zu lachen, mein ganzer Körper und mein ganzes Wesen beginnt zu lachen, zu singen, zu schwingen, vor Freude und Liebe. Bald stehe ich vor dem Baum. Es ist eine riesengroße Linde.
Und es ist irgendwie mehr als "nur" ein Baum, der vor mir steht. Es ist ein Wesen, groß und mächtig, und doch sanft und mild und weise und herzlich. Zweige, Blätter und Stamm leuchten in durchscheinendem Licht, der ganze Baum scheint zu strahlen und zu tanzen. Es ist als ob das eigentliche Wesen, die Seele des Baumes in tanzenden Lichtpunkten um Blätter, Zweige und Stamm tanzt, unaufhörlich, und dabei ein Lied singt, das ich verstehen kann und doch kann ich nicht in Worte fassen was ich höre. Ich antworte, ich lehne mich an die Linde, umarme ihren Stamm, streichle ihre Blätter und ihr Stamm öffnet sich, nimmt mich auf, ich bin im Herzen der Linde und gleichzeitig schwimme ich in einem See von golden-leuchtendem Wasser. Am Himmel über mir steht eine silbrig-leuchtende Sonne, oder ist es ein golden-leuchtender Mond?
Ich schwimme im leuchtenden Wasser, fühle noch die Berührung der Lindenblätter am ganzen Körper und bin plötzlich von Wesen umgeben. Frauen mit langen goldglänzenden Haaren tauchen neben mir im Wasser auf. Ihre Haut glänzt silbrig, wie Fischschuppen, ich weiß nicht ob sie Beine haben oder einen Fischschwanz. Sie lachen mir zu und nehmen mich in ihren Kreis auf, ich schwimme mit ihnen und fühle mich so glücklich und geborgen, zuhause und zugehörig. Die Frauen berühren mich sanft und ich fühle mehr, als ich ihre Worte höre: "Sei willkommen, Schwester.
Eine Welle tiefen Glücks und tiefer Freude durchströmt mich. Ich scheine sie schon ewig zu kennen diese Frauen und doch ist ihre Gemeinschaft mir neu. Das Wasser durchströmt mich mit seiner Lebenskraft, die silberne Sonne streichelt mich mit ihren Strahlen und das Lachen meiner Schwestern glüht in meiner Seele wie ein sanftes und doch wildes Feuer. Dann kommt plötzlich Bewegung in unsere Gruppe. Etwas nähert sich uns auf dem Wasser. Ist es ein Boot, oder eine schwimmende Insel, oder doch eine Muschel?
Eine Art Barke kommt auf uns zu und meine Schwestern versammeln sich links und rechts davon. Auf der Barke sitzt ein Mann, er trägt lange, silbrige Haare und einen Bart. Die Frauen winken mir zu. Ich nehme eine Position neben der Barke ein und schwimmend tragen meine Schwestern und ich den Mann in Richtung einer Insel, die auf dem Horizont aufgetaucht ist. Ich weiß plötzlich, dass auf der Insel eine Frau wartet. Sie wartet auf den Mann.
Ich weiß nicht genau wie ich mich fühlen soll...? Bin ein Teil der Frauen und habe das Gefühl eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Auch kann ich die Sehnsucht und die Freude des Mannes auf der Barke und auch die der Frau auf der Insel spüren. Ich weiß, es ist richtig was wir tun. Und doch, irgendetwas in mir wehrt sich dagegen. Immer näher kommen wir der Insel. Und als die Barke an der Insel anlegt und ich das Wohlwollen meiner Schwester und die Freude und liebevolle Erwartung der zwei Wesen spüre, die sich - "zum ersten Mal" kommt mir in den Sinn - und doch zum x-ten Mal in der Ewigkeit begegnen, spüre ich in mir ein Gefühl aufwallen aus den tiefsten Tiefen meines Inneren - Erfüllung, Bestimmung, Vereinigung? Ich weiß es nicht, es ist wundervoll und schmerzvoll zugleich, es ist Erwartung und das Ende der Erfüllung, es ist Freude und tiefster Schmerz, es ist ein Anfang und das Ende, es vereint alles, die Gegensätze, es ist der Kreis der Wiederkehr...
Wir verlassen die Barke und die Insel, die bald nicht mehr am Horizont zu erkennen ist. Gemeinsam mit meinen Schwestern schwimme ich auf die Küste zu. Der Himmel über mir und auch das Wasser um mich herum beginnen transparenter zu werden und in mir keimt das Gefühl, dass es Zeit ist Abschied zu nehmen. Doch ich will nicht gehen, ich fühle mich so glücklich hier in dieser Gemeinschaft der Frauen...
Meine Schwestern versammeln sich um mich herum im Kreis, sie scheinen zu singen und doch liegt auf ihren Lippen nur ein sanftes Lächeln. Ich kann ihre Stimmen in meinem Inneren hören, es ist nur eine Botschaft und sie wird immer und immer wieder wiederholt: "Du bist hier um zu vereinen. Du bist hier um zu vereinen. Du bist hier um zu vereinen. Du bist hier um zu vereinen. ........ ."
Es ist eine Botschaft, die mich berührt, die mir Angst macht, die ich eigentlich gar nicht hören möchte und doch hallt sie durch meinen ganzen Körper und meine Seele und ich weiß sie ist wahr und richtig für mich. Ihre Bedeutung kann ich jedoch nur erahnen. Der Kreis der Schwester beginnt sich aufzulösen, ich fühle jede einzelne Frau noch einmal ganz nah, wir berühren uns, wir verabschieden und wir danken uns.
Dann wird es dunkel.
Vor mir aus der Dunkelheit taucht das Bild eines Schwanes auf. Immer deutlicher kann ich den riesigen, weißen Vogel sehen, wird er vor meinen Augen lebendig. Ich sehe und spüre gleichzeitig seine großen Flugschwingen, fühle den Wind durch meine? Federn streichen. Noch einmal blicke ich dem Tier in die Augen ... und dann bin ich der Schwan!
Ich bin der Schwan, spüre die Luft durch meine Schwingen streichen und gleichzeitig fühle ich meine Arme, meine Finger, die sich in jedem Bruchteil jeder Sekunde in die Flügel des riesigen Vogels verwandeln. Mein ganzer Körper fliesst, er fliegt, unheimlich schnelle, leichte, schwerelose bewegung, ein Strömen durch den Raum, ungehinderte, schnell fliessende, fliegende Bewegung. Mein ganzes Wesen wird von diesem Flug erfasst, ich bin frei! Ich bin Bewegung! Ich bin strömendes, fliessendes, fliegendes Leben. Ein ungehemmtes, intensives Glücksgefühl durchströmt mich mit derselben Geschwindigkeit mit der ich fliege. Es ist so stark, fasst macht es mir Angst, doch in dieser Weite, in dieser Freiheit hat die Angst keinen Halt, alles ist Bewegung, alles ist der Moment, alles ist Ewigkeit und diese Ewigkeit ist Liebe.
Ich fliege und geniesse den Flug, wie lange kann ich nicht sagen, vielleicht nur Momente, vielleicht für eine Ewigkeit. Doch dann erreicht mich eine Sehnsucht, möchte nicht mehr alleine fliegen... Und da! Um mich herum sehe ich plötzlich hunderte, tausende weiße Schwäne, sie füllen den Himmel aus und fliegen mit mir. Das tiefe Gefühl der Verbundenheit füllt mich aus, es fühlt sich an als ob ich sie gerufen hätte, diese wunderbaren Wesen, und nun fliegen wir gemeinsam...
Doch dann ereilt mich ein Ruf, ein Singen, dass von weit unter mir auf der Erde ertönt und wie die Schwäne meinem Ruf gefolgt sind, folge ich nun diesem Ruf und bald lande ich auf dem Boden. Stehe fest auf meinen zwei Beinen, (leider?) kein Vogel mehr. Und vor mir steht ein riesengroßer Baum, der mich begrüßt und willkommen heißt. Ein ganz heißer Strom der Liebe strömt durch mich, weiß nicht ob ich jemals schon eine solche tief empfundene Liebe verspürt habe wie für diesen Baum. Weiß nicht einmal was für ein Baum das ist! Doch was spielt das schon für eine Rolle? Ich trete an seinen Stamm heran und umarme ihn, mit meinen Armen und meinem Herzen und fühle in mir diese tiefe Liebe für alles, was grünt, alles, was lebt.
Da tritt ein Wesen aus dem Baum heraus. Es scheint unendlich groß, unendlich weise, unendlich grün und unendlich mächtig. Voll Erfurcht gehe ich in die Knie und verneige mich, ist das der grüne Gott der Natur? Da tritt das Wesen, der Mann, an mich heran, nimmt meine Hand und ich blicke in sein Gesicht. Als er spricht klingt seine Stimme liebevoll, ein wenig traurig und ein wenig vorwurfsvoll:" Warum kniest du vor mir? Du bist genauso groß wie ich."
Lange Zeit begegnen wir uns, stehen im Austausch und ich beginne mich wie ein kleines Kind zu fühlen, unschuldig, neugierig, glücklich, kräftig, bereit zu lernen, zu wachsen und zu werden. Und gleichzeitig fühle ich mich uralt, so alt wie das Universum und spüre, dass ich uraltes Wissen in mir trage, an das ich mich erinnern kann, wenn ich das möchte.
Als wir voneinander Abschied nehmen ist in mir eine große Traurigkeit. Ich stehe nun alleine am Ufer des Meeres, es ist dunkel, die Mondin steht am Himmel und ihr Silberlicht leuchtet und spiegelt sich in den Wellen. Ich beginne zu weinen, setze mich auf den Sandboden und fühle mich einsam. Da werde ich plötzlich von zwei großen, weißen Armen behutsam aufgehoben. Erstaunt blicke ich in das Gesicht der Mondin. Sie sieht mich an, lacht vom Himmel und doch steht sie neben mir, eine schöne, silbrig-weiße Frau. Wie ein Baby nimmt sie mich an ihre Brust und ich trinke ihr silbriges Licht.
Als der Trommelschlag aussetzt, ist die Reise zu Ende. Die silberne Milch der Mondin und ihre Umarmung kann ich noch immer spüren.
Martha, Juni 2013